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KZ Dachau

Heute Abend stehe ich unweit von dem KZ Dachau.
Leider kam ich etwas zu spät, um nochmal vernünftige Fotos zu machen. Irgendwie hatte ich doch noch einen Zugang gefunden und konnte zumindest noch einige Fotos machen.


Ich war schon mehrmals in dieser Gedenkstätte, und jedesmal habe ich einen Klos im Hals, wenn ich mir bewusst werde, dass auf diesem Gelände – und zahlreichen Außenlagern ab 1933 über 200.000 Menschen aus ganz Europa interniert waren.
Über 43.000 Menschen verloren in diesem Konzentrationslager ihr Leben, bis am 29. April 1945 US-Amerikanische Truppen dieses Lager eingenommen hatten.

Das Konzentrationslager wurde bereits im März 1933 für politische Gefangene errichtet. Es diente als Modell für alle späteren Konzentrationslager und stand unter der Herrschaft der SS. Politische Gefangene waren alles Menchen, die sich nicht einem nationalistischen Denken hingaben, die ihre Meinung frei äußerten – oder den Nazis ein Dorn im Auge waren. Man kann es auch politische Willkür von einem Wahn beschreiben.

Bald ist die Befreiung dieses KZ’s 79 Jahre her, und es gibt seit Jahren immer mehr Menschen, die den Holocaust leugnen oder diesen gerne wieder aufleben lassen möchten.
NIE wieder darf ein solches Verbrechen an Menschen auf europäischen Boden passieren!NIE wieder!

Wenn eine rechtspopulistische Partei wie die AfD den rechten Arm strecken, Gedenkstätten als „Denkmal der Schande“ bezeichnen, haben all diese Menschen nichts von der Geschichte gelernt. Sie sind eine Schande für Deutschland, für unsere Demokratie und Gesellschaft.
„Demokratie muss Rechtspopulismus aushalten.“ NEIN! Denn der Rechtspopulismus zerstört unsere Werte der Gesellschaft und Zivilisation. Diesen Punkt gibt es auch nicht zu verhandeln.

Naike Juchem, 13. März 2024

Anbei noch Fotos von meinen früheren Besuchen in der Gedenkstätte Dachau

Teil II Kapitel 18 München, Deutschland

Zu Besuch bei Nescha Hefti
Mai 93

Hannes musste nach Deutschland fliegen, denn die Lieferung der letzten Pumpen für das Wasserbauprojekt von Cău Strung Melch nach Bavet Leu standen an. Da Hannes Nescha besuchen wollte, flog er von Bangkok nach München. Er wollte nicht gleich zu Ludgar in die Pfalz oder in die Firma nach Reims. In den wenigen Tagen, die er in Europa war, wollte er wenigstens ein paar Tage Urlaub machen. Er brauchte auch mal eine Auszeit für sich.
Da Nescha ihm angeboten hatte, für ein paar Tage zu ihr nach München zu kommen, kam er der Einladung liebend gerne nach. Nescha, Patricia und er waren seit Januar 90 befreundet. Im Herbst 91 bekam Nescha einen freien Platz an einer Universität in München um dort Medizin zu studieren.

Am Freitag den 21. Mai um 9.10 Uhr landete der Airbus A330 mit der Flugnummer TG7932 auf dem Franz-Josef-Strauß Flughafen in München.
Hannes brauchte für die wenigen Tage in Europa kaum Gepäck, so hatte er nur einen Koffer und einen kleinen Rucksack als
Handgepäck dabei.
Ein übereifriger Zollbeamte wollte ihn trotzdem kontrollieren.
„Guadn Dog da Herr, hob Sie wos zua vazoin?“ Fragte der Beamte.
Hannes öffnete den kleinen Rucksack, damit der Zollbeamte sehen konnte, dass nur eine Packung Kekse, sein Mobiltelefon und Portemonnaie drinnen war. „Nein, habe ich nicht. Werfen Sie bitte einen Blick in den Rucksack.“ „Jo, dann soidn mia moi in ihrn Koffa schaun.“ „Tut mir leid, den habe ich noch nicht bei mir.“ „Jo, dann wardn mia ebn. Moi seng, wos in am Koffa drinna is.“ „Gerne, nur was vermuten Sie außer ein paar Kleider, Zahnbürste und ein paar Schuhe sonst noch in einem Reisekoffer?“ „Jo, dass wern mia dann oamoi seng. Sogt jeda, dass ea grod Kleida im Koffa hod.“ „Stimmt. Ich habe ja gesagt, dass auch noch eine Zahnbürste und Schuhe in dem Koffer sind.“ „Jo, woin Sie ‚etz no fresch wern? Solche Leid wia Sie miassn kontroliad wern.“
Hannes sah den Zollbeamten irritiert an „Solche Leute wie ich? Herzlich willkommen in der Heimat!“ „Wos soi des ‚etz? Hom Sie Drogn gnomma?“ „Komisch, gleiches wollte ich Sie auch fragen.“ „Jo, ‚etz is aba moi schluss mid lustig. Jetz keman Sie mid in de Deanststäi.“ „Lieber Herr Zollbeamter, könnten wir dies alles etwas abkürzen in dem ich Ihnen einfach meinen Pass und Dokumente zeige?“ „Denn Pass wern mia vo Ihna scho no seng. Jetz keman Sie mid auf de Deanststäi. Oda mua i des Sicherheitspersonoi ruafn?“
Hannes schüttelte genervt den Kopf „Bringen wir dieses Schauspiel hinter uns. Bitte. Ich folge Ihnen.“ „Jo, wos soi des? Sie foigen mia.“ „Habe ich zwar gerade gesagt, aber es geht auch den Weg.“

Hannes folgte in Begleitung von zwei Zollbeamten der Blödheit in Uniform einige Treppen herunter, durch Flure nach links und recht und wieder zwei Treppen hoch um nochmals einen anderen Flur von einer geschätzten Länge, wie einmal um den Äquator.
„Wird mein Koffer noch da sein, wenn ich zurück komme oder ist dann schon das Sprengstoffkommando vom LKA am Terminal?“ „Sie hoidn des wohl ‚etz ois fia Gaudi?“ „Nein. Nur weiß ich nicht, wie auf einen herrenlosen Koffer am Terminal reagiert wird.“
Endlich kam die Dienststelle in Sicht, Hannes wollte schon fragen, ob sie nun in Freising sind oder noch auf dem Flughafengelände. Der Zollhauptwachmeister öffnete eine Milchglastür und ließ Hannes eintreten.
In dem Büro waren ein Dutzend Zollbeamte, die verschiedene Koffer auf den Tischen aufgeklappt hatten und offensichtlich deren Besitzer auf einer Bank gegenüber den Tischen saßen. Einige Zollbeamte saßen an Schreibtischen und bei zwei Beamtinnen saßen Personen vor dem Schreibtisch.
Der Koffer von Hannes stand auf dem ersten Tisch gleich am Eingang.
Hannes grüßte die Beamten und zu seinen Begleiter sagte er „Ach sieh an, mein Koffer ist sogar schon vor mir da.“
Dem Oberzollbereichsleiter schwillte langsam der Kragen.
„So, bitte setzdn Sie si. Dann nehma mia jetz Ihra personalian auf. Wern aa no oan Drogentest duachführn und dann Ihrn Koffa untersuchn.“ „Gerne doch. Fangen wir am besten mal mit meinen Ausweisen an.“
Der Blutdruck vom Stabskompaniegeneralmajor war mittlerweile an seiner Belastungsgrenze angekommen.
„So, dann schaun mia moi. Aha, Hmmm, soso. Des san ihre Ausweise?“ „Ja. Offensichtlich.“ „Sie keman aus Kambodscha? Wohna in Thailand. Hom oan Deitschn, Thailändischn und Diplomadischn Pass! Jo, wos nu? Arbadn fia a Französiche Firma und die UN.“ „Ich weiß, ist kompliziert, ist aber so. Um Ihnen nun noch den Rest Ihrer Drogenillusion zu nehmen, mein Koffer fällt unter den Status von Diplomatengepäck – ist eigentlich deutlich in mehreren Sprachen gekennzeichnet. Ich kann aber gerne bei der UN eine Resolution einbringen, dass auch bayerisch als internationale Sprache aufgenommen wird. Sie dürfen den Koffer noch nicht einmal öffnen!“ „Diplomadengepäck? Soso. Schuul Projegd Männedscha in Kambodscha. Deepartmend off Konstrukschion un Infrastrugdur. Soso. Mid 23 Joarn san Sie scho a Männedscha?“
Hannes blies die Luft auf und wollte sich mir der linken Hand an den Kopf fassen. Stoppte leicht in der Bewegung und kratzte sich am Kinn. Die Blödheit in Uniform drehte das Schreiben der UN  von links nach rechts.
„Was wollen Sie jetzt darauf für eine Antwort? Soll ich Ihnen den englischen Text auf bayerisch Übersetzten? In den USA wird sogar ein Hausmeister als Manager betitlet – also nichts besonderes.“ „Warum hom Sie des ned vo Ofang an gsogt?“
Hannes verdrehte die Augen und nahm tief Luft „Ich kann mich erinnern, dass ich Ihnen sagte, wir könnten dies abkürzen, indem ich Ihnen meinen Pass und Dokumente zeige. Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich habe noch etwas mehr zu tun, als mich mir dem deutschen Amtsschimmel herum zu ärgern. Im übrigen, falle ich durch meinen Ausweis von der UN unter den Diplomatenstatus. Schon mal etwas von diplomatischer Immunität gehört? Wenn Sie nun noch ein Disziplinarverfahren haben möchten – sagen Sie es gleich, ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.“
Hannes erhob sich von seinem Stuhl, nickte dem Zollgeneralmajor zu und nahm sein Koffer vom Tisch. Er ging aus der Dienststelle ohne die Tür zu schließen.

Der Weg von der Dienststelle zum Ausgang vom Gate kam Hannes wie eine Marathonstrecke vor.
Nescha saß ganz alleine am Ausgang vor dem Zollbereich und winkte, als sie Hannes sah.
„Hallo Nescha, Entschuldigung, ich hatte gerade eine Begegnung mit der dritten Art. Salut meine Liebe, ich bin endlich da. Lass uns fahren, bevor ich dem Zollbeamten noch ein Disziplinarverfahren anhänge.“

Hannes erzählte Nescha, diesen Alptraum an Blödheit in Uniform und Nescha lachte.
„Ja, Süße du lachst. Nach über 13 Stunden Flug kann ich darüber nicht mehr lachen.“ „Äxgüsi. Wie du das verzellsch, chönt ich brülle vor lache.“ „Morgen lache ich auch darüber.“
Nescha streichelte ihm mit ihrer rechte Hand über seinen linken Oberschenkel.
„Möchtsch na ga schlafe?“ „Nescha, ich bin so lange wach, wenn ich mich bei dir hinlege, werde ich wohl erst am Sonntag wieder wach werden. Fahr zu dir nach Hause und wir sehen dann was wir machen. Ich hätte Hunger auf richtig gute Semmelknödel.“

München, bei Augustiner am Frauenplatz

Nachdem Hannes doch zwei Stunden bei Nescha auf der Couch geschlafen hatte, fuhren sie mit der S-Bahn ins Zentrum von München.
Am Dom aßen sie Schweinshaxen mit Knödel und tranken schönes helles Augustiner Bier vom Fass.
„Wie gahts Patricia?“ „Nächstes Jahr arbeitet sie mehr für das Bildungsministerium in Kambodscha und für UNICEF, dann ist nicht mehr so viel mit ihrem Traumberuf. Eine Oberärztin aus dem Krankenhaus in Khorat wohnt bei uns im Village und Patricia lässt sich von ihr regelmäßig Bluttests machen. Reto schaut auch immer noch nach ihr. Nescha, ich habe Angst, wenn die Befunde da sind und die Werte sich verschlechtert haben. Du kannst dir diese Achterbahnfahrt, die ich im Hirn habe, gar nicht vorstellen.“ „Ungefähr scho. Ich studier Medizin. Natürlich isch es bi eu öpis anders, als ade Uni devo zghöre oder zläse. Mir kenned eus ja jetzt au scho es langi Ziit. Sit fast vier Johre machsch dir täglich die Gedanke du tuesch mir so unendlich leid. Die Medizin isch sit Johre am forsche. Es git immer besseri Behandlige – au bi de Früehnerkennig“ Nescha sah in leere Augen von Hannes.
„Tu’der das doch nid ständig aa, d Leukämie mues doch nid widr zru cho. Reto het dir das doch vor drü Jahr aues erklärt gha. Hannes, bitte.“ „Ich kann mein Hirn nicht deleten. Wenn ich es könnte, würde ich diese verdammte Krankheit zum Teufel jagen.“
Nescha streichelte ihm den Arm und hielt seine linke Hand fest „I ha nech beidi i subtropische Wälder kenneglernt. I ha mitbecho, waser beidi inere ungloublech churze Zyt hei gschtumme u euch im Hotel gseit, dass nech mau es Dänkmau bout wird. I ha rächt gha. Lefevre School! Das es so gross würd isch mer aber nid bewusst gsi“ „Danke Nescha. Uns auch nicht.“ „Denket bi dere Gschwindigkeit aber o a euch“ „Dies tun wir. Wenn wir eine Auszeit brauchen, fahren wir für zwei oder drei Wochen nach Kampang Rou, arbeit ist dort immer noch genug für uns.“ „Usziit? Arbeit isch dert immer no gnue? Hannes, i ha gmeint eher a Urlaub.“ Nescha sah Hannes irritiert an.
„Ja. Es hört sich voll blöd an, ist aber so. In Kampang Rou fing für uns alles an – dort sind unsere Wurzeln. Auch wenn es heute Städte und Ortschaften wie Battambang, Kompong Chhnang, Udong, Poipet oder Sisophon sind. Der “Europa Platz“ ist und bleibt einmalig. Für uns ist es ein Gefühl nach Hause zu kommen und es ist keine Arbeit Kinder zu unterrichten, Vermessungen zu machen oder Bauprotokolle auf der Weide zu schreiben. Es ist für uns wirklich Erholung.“ „Euri Definition vom Erholig isch scho sehr merkwürdig.“
Hannes zog die Schultern hoch „Wie soll ich es dir erklären? Wir gehen nach Feierabend durch Kampang Rou und erinnern uns an die Anfänge und sehen die vielen Veränderungen im Ort. Wir werden oft von den Dorfbewohner eingeladen und sie erzählen uns von ihrem Leben, den Veränderungen und auch Träume. Nescha, diese Momente sind für uns Urlaub.“ „Okay. Wi geits Sangkhum?“ „Sangkhum ist groß geworden, aber immer noch völlig verrückt auf mich. Patricia leitet jetzt eine Schule in Chong Kal, unweit von Samraong. Sangkhum ist in dem Ort in einer Herde von Rinder und fühlt sich wohl. Ich sprach mit dem Bauer, ob ich Sangkhum zu ihm stellen könnte. Ich möchte sie schon in meiner Nähe haben. Auch Sangkhum ist eine Auszeit uns. Wir gehen am Abend oder Morgen gemeinsam mit Sangkhum spazieren und genießen diese Momente. Sag mal, soll ich für Sangkhum eine original bayerische Kuhglocke kaufen?“
Nescha schüttelte sofort den Kopf „Um Gottes Wille, nei! I finde es schöns, kunschtvoui Zaumzüüg viu schöner aus e Gloe.“ „Du meinst so etwas, was die Kühe beim Almabtrieb tragen?“ „Ja, i die richtig. Es mues nid sones unsinnigs gedöhns si. So es cools kunstvolls Halsband wär doch toll.“ „Wo bekomme ich so etwas zu kaufen?“ „Mir fahred morn mal go luege, okay?“

Ausflug ins Allgäu

Mit Nescha fuhr er mit ihrem VW Golf am Samstagmorgen aus München raus ins Allgäu. Sie fuhr an Starnberg und Schongau vorbei, ohne zu wissen wo hin. Am Ende waren sie in Füssen.
In der wunderschönen Altstadt saßen sie bei Haxe, Brezel und Bier.
„Danke Nescha für diesen Ausflug. Dies ist alles so anders, als das was ich täglich sehe. Als Kind war ich mit meinen Eltern hier in der Gegend in Urlaub gewesen. Viele Erinnerungen sind immer noch da. Ich brauche kein Meer und Strand für Urlaub zu machen. Hier diese Natur, die Schönheit der Gebäude und natürlich der Blick auf Schloss Neuschwanstein ist schon toll.“ „Vermissisch dini Heimat?“ „Hmmm. Welche Heimat? Nescha, dies ist eine sehr schwierige Frage. Vor vier Jahren habe ich für Patricia meine Heimat im Hunsrück verlassen und ging nach Lothringen. Nun leben wir schon seit drei Jahren in Thailand. Ja, ich vermisse meine Heimat und Nein, ich möchte nicht zurück. Auch wenn in Kambodscha und Thailand alles sehr chaotisch ist, es ist eine völlig andere Welt. Weniger Stress und mehr Zufriedenheit. Die Menschen sind nicht mit den Fehlern anderer beschäftigt und achten mehr auf das miteinander.“
Nescha nickte „Ja, das hani ou gmerkt. Also isch Thailand oder Kambodscha dini Heimat?“ „Nescha, ich kann nicht sagen, was meine Heimat ist. Ich liebe Kambodscha genauso wie Thailand. Durch die damalige politische Lage haben wir uns für ein Haus in Thailand entschieden. Du kennst unser Haus. Unsere Freunde bauten für uns dieses Haus und somit eine Heimat in einem Fremden Land.“
Nescha nickte ihm zu „Du hesch scho immer chönne Mönsche füehre.“
Hannes schüttelte energisch den Kopf. „Nei Hannes. Du füehrsch uf e Art wienis bis jetzt nume bi Reto gseh ha. Dir beidi si dr glich schlag Mönsch. Hesch dir jemals Gedanke gmacht warum du so früeh d Leitig für dieses Projekt übercho hesch?“ „Welche Gedanken? Es wurde auf der ersten Party in Kampong Rou von allen anderen einfach beschlossen. Ich wurde förmlich übergangen.“
Nescha schüttelte den Kopf und Hannes sah sie fragend an.
„Du weisches würklech nid?“ „Nescha, was sollte ich wissen?“
Sie sah ihn lange an und er wartete auf ihre Antwort, die er offenbar nicht kannte. „I bi früecher sehr viu mit dr Patricia zäme gsi. Sie het mir o sehr viu vo dir verzeut. Viu han i o säuber vo dir in Kampang Rou oder Svay Rieng gseh. Asger het o sehr viu mit Reto über di gredt. Ja, är isch dr Leiter vom Bauabschnitt 3 gsi. Är het aber o gseh das du viu meh Chraft, Engagement u Idee hesch gha als är. Verstah ds itze nid fausch. Asger isch nie eifersüchtig gsi uf di. Är het bi dir meh potential gseh aus i sich säuber. Natürlech isch di Alter e Punkt gsy, wo me het chönne kritisiere – u o da het. I nenne iz ke Name, wüu di Kritiker hei vorbehaltlos dim gstumme, i nennes mal: Aufstieg, bi ODHI zue.“ „Nescha…?!“ „Moment lah mi bitte witer verzeue. Reto und ou angeri hei grad us dim Alter es grosses Potential gseh. I säg mau so, du bisch heimlich vo dine Mitarbeiter beobachtet worde. Und dene ihrne Idrück und Meinige über di, hei si mit Patricia i ihrer Schuel besproche.“
Hannes sah Nescha ungläubig an und schüttelte immer wieder den Kopf.
„Damals war das Team von Asger doch gar nicht so groß. Also kann es ja nur einen Kritiker gegeben haben.“ „Falsch. Du bisch au bi Arthur a sim Bauabschnitt gsi. Nun mach dier bitte kei Gedanke über die Kritiker. Sie han dich nie abglehnt. Es isch nur die Zwiifel a dim Alter gsi – nie a dinere Menschlichkeit. Ich han scho gseit du und de Reto sind de glich Schlag Mensch. Was ich vor mim Studium dure und mit Reto glernt han, bringt mir hüt a de Uni sehr vill Vorteil. Z Aafang vo dem Studium han ich mini Arbet und Erfahrig vo de andere Kommilitär vorgstellt und es isch en Mischig us Hochachtig und belächle gsi. De Reto isch als Urwald-Dokter betitlet worde. Nach em erschte Semester händ d’Kommilitone nüme glachet. Reto isch en unglaublich guete Mediziner und er chan mit de eifachste Mittel und Möglichkeite helfe. Hannes, ich han i de Ziit in Kambodscha meh glernt als mängs i ihrem Läbe nie werdet lerne. Au han ich mit eu und vor allem durch dich e Teamarbet gseh wos wahrschinli au keis zweits Mal git. Dini Sicht uf Dinge oder Idee vo anderne Lüüt hesch meh als gnueg bewise. Was de Reto i de Medizin isch, bisch du i de Menschefüerig. Drum isch vo all dine Mitarbeiter entschiede worde, dass du d Leitig söttsch becho.“
Hannes sah Nescha bei diesen Worten wie versteinert an. Von all dem wusste er selbst nach drei Jahren nichts. „Ich glaub dies alles nicht!“ „Verständlich. Isch aber so. Du hesch sälber gseit, dass Fründe eues Huus und somit e Heimat baut händ.“
„Phuu, was soll ich dazu sagen?“ „Nüt. Nimms eifach so aa. Im übrige möcht i in de Semesterferie wider uf Kambodscha cho. Zum eine lerne und will i eu alli sehr vermissed.“ „Cool. Dann sehen wir uns bald wieder. Komm, nun lass uns noch nach einem Halsband für Sangkhum schauen.“

In einem Raiffeisen Markt in Schwangau fanden sie, was beide wollten.
Dem Verkäufer klar zu machen, was ein Banteng Rind ist, erwies sich für Hannes doch etwas schwieriger als gedacht. Zum Glück war ein Landwirt in dem Laden, der es dem Verkäufer genauer erklären konnte. Als Hannes und Nescha die Erlebnisse mit Sangkhum erzählten, war ein sehr großes staunen den beiden Herren in dem Raiffeisen Markt anzusehen.
Mit dem gewünschten Zaumzeug verließen beide das Geschäft. Auf dem Weg zu Autos sagte Hannes zu Nescha „Zu Glück warst du mit in dem Laden, ich glaube, die hätten mich sonst in die Geschlossene Anstalt eingewiesen.“ Nescha lachte „Ohni frag! Das alles glaubt dir in Europa kein Mensch was du mit Sangkhum erlebsch.“

Am Sonntag waren beide in der Innenstadt von München unterwegs. Seit Hannes in Deutschland war, war es eine schöne Maiwoche und so waren beide an der Isar, im Englischen Garten, Stachus und andere schöne Plätze in München gewesen.

Es gibt Momente die prägen ein ganzes Leben.

Am Dienstagnachmittag waren sie auf dem Viktualienmarkt und kamen spontan auf die Idee ins Kino zu gehen. Am Isartor fanden sie ein Kino welches zu dieser Uhrzeit geöffnet hatte. Im Aushang sahen sie sich die Plakate für die Filmvorführung an. Das Plakat von Schindlers Liste fiel ihnen ins Auge. „Möchtest du in diesen Film?“ Fragte Hannes.
Nescha zog die Schultern hoch „Ich weiss nöd. die andere Filme interessieret mich nöd bsunders.“

Mit Nescha schaute er über drei Stunden die Abgründe der Deutschen Geschichte filmisch grandios und schockierend dargestellt.
Der Saal im Kino war etwa zur Hälfte besetzt. Diesen Film in einer vollkommenen Ruhe zu sehen, wirkte auf beide. Es gab während der Vorführung kein rascheln von einer Chipstüte, kein räuspern – nichts. Nur Stille.

Nach dem Film mussten Nescha und Hannes sich erst einmal sammeln.
Sie standen im Foyer des Kinos und waren sprachlos – die Bilder wirkten nach!
An einem Stehtisch neben ihnen erging es einem älteren Ehepaar genau so. Sie kamen mit dem Ehepaar ins Gespräch.

Nach einiger Zeit verließen sie gemeinsam das Kino und gingen in die Stadt einen Cappuccino trinken. Bei den Gesprächen  in einem kleinen Cafe kam Nescha und Hannes auf ihre Einsätze in Kambodscha zu sprechen. Die älteren Herrschaften hörten sehr aufmerksam zu und stellten viele Fragen. Rosemarie und Paul Herrmann waren sehr angenehme Menschen und so wurde es immer später und die Gespräche nahmen kein Ende, also ging die kleine Gruppe in ein Restaurant in der Nähe der Heiliggeistkirche.

Beim warten auf das bestellte Essen merkte Hannes dass Rosemarie seit länger Zeit etwas bedrückte und sie offensichtlich nicht wusste wie sie es sagen sollte. Immer wieder sah sie zu Paul und dann sagte sie ganz unverhohlen in die kleine Runde, dass sie Jüdin sei und ein KZ überlebt habe. Diese Worte traf Nescha und Hannes wie ein Faustschlag ins Gesicht. Da waren sie nun fünf Stunden mit diesen beiden Herrschaften unterwegs und dann kam so ein Schlag.
Rosemarie erzählte von ihrer Kindheit, von der Willkür der NSDAP, den Demütigungen und auch die Deportation. Hannes hatte das Gefühl als ob sein Hirn einfror. Ein Film zu schauen war etwas völlig anderes, als wenn ein Mensch gegenüber sitzt und das Leben – sein Leben erzählt.
Es wurde ein sehr langer Abend und man verabredete sich für den nächsten Tag. Rosemarie wollte mit ihnen ins KZ Dachau fahren.

Hannes lag auf dem Sofa von Nescha und konnte nicht einschlafen. Nescha kam zu ihm ins Wohnzimmer „Bisch na wach?“ „Ja. Nescha, wir stehen vor der Ohnmacht der Geschichte und wissen nicht wie wir damit umgehen sollen. Du und ich kennen die Orte der Killing Fields in Kambodscha. Vor drei Jahre sagte ich zu Patricia, ich weiß nicht wie ich reagieren werde, wenn ich beim graben mit dem Bagger ein Massengrab finde. Dieser Alptraum ließ mich lange nicht los. Zum Glück fahre ich heute kein Bagger mehr, aber was ist, wenn andere aus meinem Team auf ein solches Grab stoßen? Wie soll ich damit umgehen?“
Nescha setzte sich zu ihm und umarmte ihn. Sie suchte nach Worten und schüttelte immer wieder stumm den Kopf.
„Hannes, mir fehled grad die Worte. Mir beidi hend in Kambodscha wahrlich gnueg a Armuet und Tod gseh. Ischs e gueti Idee mit de beide hüt uf Dachau z fahre?“ Hannes zog die Schultern hoch, er wusste es auch nicht. „Zuviel was wir nicht begreifen können. Zuviel an Demut, Schuld und Scham. Zuviel an Fragen. Nescha, was können wir beide für diese dunkelste Epoche von Deutschland? Wir sitzen hier mit unserer Jugend und reden über etwas, an dem wir gar nicht Schuld sind und trotzdem haben wir Schuldgefühle. Können wir den Genozid in Kambodscha begreifen? Diese Gräueltaten waren um ein vielfaches schlimmer, als das was wir von den Nazis kennen. Die Auswirkungen haben wir beide mehr als genügend gesehen. Ich bin viel in dem Land unterwegs und sehe 15 Jahre später noch immer diese grausamste Epoche der Roten Khmer.“
Nescha nickte „Dörf ich bi dir schlafe?“ „Natürlich. Es wird zwar etwas eng auf deinem Sofa – wird aber schon gehen.“
Nescha lag ihm gegenüber an den Füßen, so war etwas Platz für beide.
Bis früh in den Morgen sprachen sie über die Ohnmacht der Geschichte, für die sie beide nichts konnten.

Um 10 Uhr fuhr Hannes mit dem VW Golf von Nescha am Hotel vor. Das Hotel lag im Randgebiet von München. Rosemarie und Paul standen bereits am Eingang und winkten ihnen zu, als beide aus dem Auto stiegen.
Gemeinsam tranken sie noch einen Kaffee auf der Terrasse und Nescha sprach offen die Gedanken der vergangenen Nacht an „Rosemarie, wotsch würkli nach Dachau fahre? Mir müend det nöd ane. Mir hend die Nacht na sehr lang über de Film und d’Ohnmacht vor de Gschicht gredet. Hannes gseht’s au wie ich – mir müsed nöd nach Dachau.“
Mit fester Stimme sagte Rosemarie „Ich will und möchte endlich abschließen. Seit Jahren quäle ich mich und nie hatte ich den Mut der Vergangenheit zu begegnen. Der Film von gestern war ein kleiner Schritt – auch wenn er sehr weh getan hatte. Dann haben wir euch getroffen. Ihr seid auf der Welt unterwegs im Einsatz für Menschen und seht auch genügend Leid und den Tod. Ihr beide versteht es besser als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Mit euch schaffe ich diesen letzten Schritt zu gehen.“
Nescha nickte Hannes, Paul und Rosemarie zu „Okay, mir gönd mit dir de letscht Schritt.“

Schweigend fuhr Hannes aus München die 20 Kilometer nach Dachau. Je näher er diesem Ort kam, umso größer wurde die Angst in ihm. Was ist, wenn Rosemarie dies nicht schafft? Er dachte an einen Nervenzusammenbruch oder gar an einen Herzinfarkt. Als Medizinstudentin könnte Nescha sofort Erste Hilfe leisten, wenn die Sorgen von Hannes bei Rosemarie eintreten sollten.
Im Rückspiegel sah er Rosemarie und Paul Hand in Hand sitzen. Es war eine surrealistische Situation für ihn. Wie ein junges Liebespaar, welches sich nicht traut zu küssen und trotzdem vom Leben gezeichnet und dennoch fest entschlossen war, einen unglaublich schwierigen Weg zu gehen.

Die Wegweiser zum KZ kamen immer häufiger, der Puls von Hannes war an seiner Belastungsgrenze und er hörte sein Herz schlagen.
Auf dem Parkplatz angekommen, sah Nescha zu Rosemarie und Paul „Mir müend det nöd ane!“ „Doch! Für euch. Für mich und für die Zukunft.“
Nescha nahm die Hand von Hannes. Auch für sie war es eine Belastung. Jeden Schritt näher zu diesem Ort war ein Schritt in die Ohnmacht der Geschichte.
Auch wenn Dachau kein Vernichtungslager war, die Grausamkeiten, die Entgleisung der Menschlichkeit war spürbar und zu sehen: Die Gebäude, Skulpturen, Erinnerungstafeln und die Krematorien waren Zeugnisse genug.

Mit einer Gruppe von ungefähr 30 Personen wurden sie durch die Anlage geführt. Sie vier, eine Schulklasse der Oberstufe eines Gymnasium aus Unterfranken und noch drei Ehepaare.
Der Mann der die Führung machte, erklärte sachlich und ruhig. Er beantwortete Fragen aus der Gruppe und tat dies mit dem allergrößten Respekt an die Opfer des Nationalsozialismus.

Mit der Zeit merkte die Gruppe das Rosemarie mit dem Mann länger sprach und auch sie das ein oder andere beitragen konnte. Irgendwann merkte die Gruppe, dass Rosemarie keine gewöhnliche Touristin war und so bildete sich eine kleine Traube von Menschen um Rosemarie.
Rosemarie kamen bei den Erzählungen aus ihrer Kindheit immer wieder die Tränen und Nescha fragte, wie es ihr geht. Von der Gruppe nicht beachtet, hielt Nescha die Hand von Rosemarie und fühlte unauffällig – aber gekonnt ihren Puls. Hannes sah in den Augen von Nescha und diese sagte ihm, dass alles in Ordnung sei.

Nach dieser doch sehr speziellen Führung, zeigten die anderen Besucher aus der Gruppe ihren größten Respekt an Rosemarie und stellten weitere Fragen.
Auf einer der Bänke auf dem Gelände saß Rosemarie, Nescha und Paul. Nescha fühlte immer wieder unauffällig ihrem Puls.
Rosemarie beantwortete ruhig die Fragen der anderen Besucher aus ihrer Gruppe. Hannes stand hinter der Bank und beobachtet die Regungen der Jugendlichen und auch Erwachsenen auf die Schilderungen von Rosemarie. Es tat ihr gut, unter dieser Anteilnahme von Ehrfurcht und Respekt ihre Vergangenheit endlich abzuschließen.
Trotz der angenehmen Temperatur an diesem Tag, war es Hannes kalt. Was Menschen in ihrem Leben erlebt hatten, war für ihn nicht zu begreifen. Er dachte an die Bilder von Kampang Rou im Januar 1990. Er sprach mit Patricia von einem realen Alptraum. Ein Kinderkarussell war dies gegen das Erlebte von Rosemarie.

Auf dem Rückweg zum Hotel bedankte sich Rosemarie und Paul immer wieder bei ihnen und ließ es sich nicht nehmen, beide zum gemeinsam Essen einzuladen.

Politische Klarstellung an der Grillhütte

Am Donnerstag, den 27. Mai, fuhr Hannes mit dem Zug von München nach Mainz, er wollte zu seinen Eltern ins Nahetal.
Der kleine Bahnhof im Nachbarort war ihm bestens vertraut und trotzdem fremd. Er ging vom Bahnhof die eineinhalb Kilometer mit seinem „Diplomadengepäck“ an Häuser und Menschen vorbei, die er von Kindheit her kannte. Erinnerungen an so vieles schöne kamen hoch. An was werden die Kinder in Kambodscha mal denken? Viel schönes gibt es in deren Leben nicht. Armut, Hunger, leben im Dreck und Krankheit waren der Alltag dieser Kinder. Keine Schlittenfahrten im dunkeln, Fahrradrennen durch die Straßen im Ort oder Hütten bauen im Wäldchen am Ende ihrer Straße. Unbeschwert war seine Kindheit im Nahetal gewesen.

Auf den letzten Metern durch die kleine Sackgasse brauchte er länger, als auf den eineinhalb Kilometer vom Bahnhof bis zu seinem Elternhaus. Die Nachbarn fragten vieles über Kambodscha. Hannes erzählte nichts über, hungernde Menschen, bitterste Armut, Angst vor Landminen und Machtlosigkeit bei Kindersterben. Der Nachbarsjunge bei der UN! Er hatte ja einen so tollen Job! Wenn sie wüssten,qas er alles schon erlebt hatte!

Seine Eltern freuten sich sehr, dass der Sohn nach zweieinhalb Jahren wieder zuhause war und spontan wurde der Grill vorbereitet.
Am Abend lag die Heimat in Form von Schwenkbraten auf dem Grill. Freunde von seinen Eltern kamen vorbei und waren stolz auf ihn. Hannes war es leid, dass die Nachbarn und Freunde der Eltern ein völlig falsches Bild von Kambodscha und seiner Arbeit hatten. Es war an der Zeit ihnen die Wahrheit zu sagen.
„Als ich mit Patricia vor drei Jahren Nachts nach Hause gekommen bin und wir euch von den ersten Vierteljahr aus Kambodscha berichteten, gab es zwischen Kambodscha und Vietnam noch kein Waffenstillstandsabkommen. Wir bauten im den vergangenen Jahren zwei Schulen auf und waren in Lebensgefahr. Auch hatte Bernhard euch vor Weihnachten 89 nicht die Wahrheit über Kambodscha gesagt. Wir, ich, wollen nicht, dass ihr euch Sorgen macht. Seit einem Jahr ist die United Nations Transitional Authority in Cambodia: kurz UNTAC – eine UN-Friedensmission mit ungefähr 21.000 Menschen aus 100 Länder in Kambodscha im Einsatz. Die Hauptaufgabe der UNTAC ist die Wiederherstellung einer zivilen und demokratischen Ordnung und die Vorbereitung für freie und demokratische Wahlen. Es geht langsam bergauf in dem Land. Kambodscha war seit Ende der 60er fast durchgehend ein Kriegsgebiet mit oft äußerst brutal geführten Auseinandersetzungen zwischen Thailand und Vietnam. Der Vietnamkrieg von den USA brachte in Kambodscha jahrelange innenpolitische Unruhen und einen gewaltsame Regierungswechsel mit sich. Wodurch ab 1975 die Roten Khmer an die Macht kam. Diese zerstörten einen Großteil der Infrastruktur, der öffentlichen Verwaltung und Bildungseinrichtungen. Innerhalb von drei Jahren, acht Monaten und 20 Tagen starben zwischen 1,7 und 2,5 Millionen Kambodschaner – rund ein viertel der damaligen Bevölkerung des Landes! Bis heute kann niemand eine genaue Zahl nennen, manche Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl sogar auf drei Millionen ermordete Menschen. An 300 Orten – den sogenannten Killing Fields, wurden Menschen bestialisch gefoltert und umgebracht. Die Nazis waren mit ihrem Rassenwahn schon schrecklich genug. Die Rote Khmer setzte noch einen obendrauf – und dies am eigenen Volk! Die Auswirkungen von diesem Genozid spüren wir heute noch. Der Analphabetismus und die Armut ist in einer astronomischen Höhe. Menschen sterben an Hepatitis und Malaria. Durch Mangelernährung sehen wir viele Menschen mit geistiger Behinderung – besonders Kinder. Auch körperliche Behinderung – oder besser: Verstümmelungen durch Landminen oder durch die Folterungen der Roten Khmer sehen wir täglich.“
Hannes machte eine Pause und ließ seine Worte wirken.
„Mein Gott!“ Sagte Elfriede, eine Freundin seiner Eltern und hielt sich die Hand vor den Mund. Hannes nickte ihr zu.
„Ende 1979 marschierten vietnamesische Truppen in Kambodscha ein. Diese besiegten die Roten Khmer und übernahmen die Kontrolle über den Großteil des Landes. Die Zivilbevölkerung leidet seit nun 14 Jahren am meisten an Hunger und Krankheiten – natürlich auch an Bildung. Was Patricia und ich im Januar vor drei Jahren gesehen haben, war ein Alptraum! Ein Kollege aus dem Team hat es treffend als Zombie Land beschrieben. Wir standen mit einer handvoll Menschen vor der Ohnmacht dieser Welt. Wie können helfen? Wer kann helfen? Und die schlimmste Frage war: Wo fangen wir an zu helfen?“
Die Eltern, wie auch deren Freunde saßen geschockt und sprachlos am Tisch der Grillhütte.
„Vor drei Jahren hatte ich mit einem Major aus Svay Rieng eine geheime Abmachung getroffen.“
Seine Mutter riss die Augen auf.
„Nichts Schlimmes! Mama, ist alles gut! Ich brauchte Männer für unsere Arbeit und Vorhaben. Nur wo sollte ich diese Leute herbekommen? Die paar Zivilisten, die wir als Arbeiter hatten, waren viel zu wenig. Ich brauchte eine Armee um überhaupt irgendwo anzufangen. Ich bekam schließlich 50 Soldaten – immerhin besser als nichts. Der Major setzte mich zwei Monate später unter Druck und stellte mir Forderungen. Ich sagte ihm was ich davon hielt und wir paar Europäer keine Forderungen erfüllen werden. Wir sind zum Helfen und Aufbauen da. Meine Antwort passte dem Major nicht. Er hätte mich von seinem Rang und der innenpolitischen Lage aus Kambodscha ausweisen können. Auch da sagte ich ihm klar und deutlich meine Meinung.“
Seine Mutter stand kurz vor einem Kollaps. „Seit jenem Abend sind wir per du. Mama, ich sagte doch, es ist nichts schlimmes.“ „Du kannst doch mit einem Major nicht so umspringen!“ „Doch! Dies lernte ich von einem Arzt aus der Schweiz. Reto hat mir in Kampang Rou viel beigebracht und ich bin froh über diese Freundschaft. Da eben die innenpolitische Lage damals noch sehr instabil war – und heute auch noch ist, habe ich in dem Major einen Verbündeten gefunden. Dies ist aber alles geheim. Ein Offizier aus der Kasernen war und ist der Mittelsmann. Ja, ihr Leute, Politik ist nicht einfach. In der Provinz Svay Rieng ist ein Herr Phirun Suoth der Gouverneur. Er ist ein Wurm der kein Rückgrat hat und auch sehr korrupt ist. Zweimal hatte ich eine nicht gerade konstruktive Unterhaltung mit ihm, beim zweiten Mal hatte ich gewonnen. Von dieser Unterhaltung hatte ich dem Major erzählt. Ab da an wusste ich wer im Hintergrund die Fäden in der Provinz Svay Rieng zog und zieht. Ganz nebenbei macht der kleine Hannes aus der Nachbarschaft noch Politik.“
Sein Vater war wie vor den Kopf geschlagen „Ich dachte du fährt Bagger und betreust ein Wasserbauprojekt.“ „Mache ich auch. Bagger fahre ich kaum noch – zum Glück! Mein Alptraum war und ist, dass ich ein Massengrab von der Roten Khmer ausbuddele – oder auf den Felder über Minen fahre. Diese Angst habe ich heute noch, wenn meine Mitarbeiter am graben für die Wasserleitungen oder Fundamente für die Pumpenhäuser am machen sind. Ich betreue und leite nun noch andere Projekte von unsere Firma und der UN in Kambodscha. Humanitäre Hilfe ist nicht einfach mal einen Brunnen bohren oder Dutzende Säcke mit Reis verteilen. Humanitäre Hilfe ist auch Politik, Macht und Gier. Macht hatte der Major, Gier der Gouverneur. Also blieb für mich nur das Militär – wenn es auch verdammt gefährlich war. Es hätte dem Major sein Leben kosten können – meines übrigens auch!“
Wieder war großes Entsetzen am Tisch und niemand konnte in dem Moment etwas sagen.
„Ab Juni 1990 baute ich mit meinen Teams endlich vernünftige Schulen auf. Das Geld dafür kam vom Außen- und Bildungsministerium aus Frankreich – viel Geld! UNICEF war zu langsam, obwohl mir die Leiterin von UNICEF in Kambodscha vieles versprochen hatte. Auch da musste ich mal etwas lauter meine Meinung äußern.“
Kopfschütteln von den Eltern und den vier Freunde am Tisch.
„Mein Schimpfen und klare Haltung hatte mir im Mai 1990 einen Arbeitsvertrag von UNICEF eingebracht – den ich nicht unterschrieben habe! Ich schickte den Arbeitsvertrag am gleichen Tag nach Reims zu ODHI. Der Gebietsleiter für Südostasien hat den Vertrag zu meinen Gunsten überarbeitet. Schweren Herzens stimmte die Leistung von UNICEF in Kambodscha dem neuen Arbeitsvertrag zu.
Als im Sommer 92 endlich die United Nations Transitional Authority in Cambodia kam, bekam ich endlich Geld für noch mehr Schulen zu bauen. So haben wir in doch recht kurzer Zeit die Infrastruktur in den Provinzen Svay Rieng, Prey Veng und Oddar Meanchey für viele Menschen verbessert. Trotzdem ist es zu wenig. Seit drei Jahren bin ich am denken, wie wir es schaffen können, für die Menschen nachhaltig Lebensmittel und eine Existenz zu sichern. Nun habt ihr mal eine Vorstellung wie humanitäre Hilfe aussieht. Es ist eine schwere Arbeit für eben mal tausende Menschen zu denken und immer wieder kommen die Probleme für Geldgeber zu finden und diese auch zu überzeugen.“

Meeting in der Pfalz
1. Juni

Am Dienstag nach Pfingsten fuhr Hannes mit dem ersten Zug vom Naheland in die Pfalz zu Ludgar, um mit ihm über die nächsten Lieferungen der Wasserpumpen zu reden. Beide kannten sich nun schon seit drei Jahre und Hannes mochte die pfälzische Gelassenheit von Ludgar.
Im Büro von Ludgar waren noch zwei weitere Ingenieure und wollten von Hannes wissen, wie die beiden hochmodernen Hochleistungspumpen mit den speziellen Getrieben für seine beiden Wasserräder funktionierten. Beim erzählen sah Hannes den Stolz in den Augen von Ludgar.
„Ich kann ohne Übertreibung sagen, Ludgar hat zwei Pumpen gebaut, die zuverlässig arbeiten und selbst ohne Getriebe äußerst respektable Leistungen bringen. Ich konnte damals die Antriebskraft von dem einen Wasserrad nur schätzen und trotzdem baute Ludgar mir diese Pumpe.“ „Ich muss auch sagen, es war viel Glück und Erfahrung dabei.“
Hannes nickte Ludgar zu „Sei nicht so bescheiden. Durch deine Erfahrung haben sechs Dörfer schneller Wasser, als wir die Hauptleitung legen können. Ludgar, sehr vieles hat sich durch deine Pumpen für diese Menschen verbessert!“

Beim Mittagessen in der Firmenkantine erzählte Hannes in einer kleinen Runde von Ingenieure und Mitarbeiter von den vielen Projekten in und um Kampang Rou und wie er immer noch nach einer Lösung für die Lebensmittelknappheit in der Provinz Svay Rieng suche.

Ludgar fuhr Hannes nach Mannheim zum Hauptbahnhof. Hannes wollte dies nicht, aber Ludgar ließ keine Widerrede zu. Die halbstündige Fahrt mit privaten Gesprächen war für beide sehr angenehm. „Wann fliegst du nach Kambodscha zurück?“ „Ich denke am Wochenende. Wir haben alles soweit besprochen. Morgen fahre ich mit Bernhard nach Reims in die Firma und dann eventuell am Freitag oder Samstag von Frankfurt nach Bangkok.“

Einsam und verloren in Erinnerungen

Von Mannheim aus fuhr Hannes mit dem Zug nach Metz. Auf der knapp zweieinhalbstündige Fahrt konnte er über viele nachdenken und sah durch das Fenster seine Heimat an ihm vorbeiziehen. War Deutschland noch seine Heimat? Bleibt ein Geburtsland immer die Heimat? Nescha hatte ihm eine schwierige Frage gestellt, welche er nicht so leicht beantworten konnte. Er würde seine kluge Freundin nach einer Antwort fragen.
Franziska holte Hannes in Metz am Bahnhof ab und war sehr froh den Schwiegersohn in spe umarmen zu können.

Nach einem langen Abend mit Gesprächen und Wein, war Hannes froh im Bett von Patricia zu liegen. Mit Erinnerungen an viele schönen Momente in diesem halbrunden Bett, fühle er sich in diesem Moment sehr einsam. Er schaute auf das Display am Radiowecker und sah dort 0:23 Uhr stehen. In Kambodscha war es jetzt 5:23 Uhr. Hannes griff nach seinem Mobiltelefon und wollte mit Patricia reden. Die Vernunft sagte ihm, dass es noch zu früh sei und er Patricia nicht unnötig wecken wollte. So schlief er mit Cleo an seiner linken Seite ein.

Es war noch vor 6 Uhr als Cleo ihn mit seinen riesigen Labrador Pfoten unsanft weckte.
„Cleo, du nervst. Kannst du nicht alleine in den Garten gehen?“
Cleo stellte sich mit seinen Vorderpfoten auf seine Brust und Hannes dachte ihm wird der Brustkorb eingedrückt.
„Meine Güte! Geh runter von mir! Ich möchte gerne auch mal etwas länger schlafen. Mach du doch mal meinen Job. Da ist nix mit pennen im Garten.“
Hannes wuschelte den großen Kopf von Cleo und ging mit ihm spazieren.

Sieben Menschen bewegen mehr als eine Armee

Nach dem Frühstück mit Bernhard, Franziska, Maurice und Annabell, war es an der Zeit nach Reims in die Firma zu fahren. Es musste über einige Projekte gesprochen werden. Mittlerweile gab es drei weitere Wasserbauprojekte und auch drei Bauabschnitte für Stromtrassen. Stephane wollte unbedingt diese Projekte der Stromversorgung haben und hatte sich auch mächtig ins Zeug gelegt um Mitarbeiter und Baumaschinen zu bekommen. So waren seit Herbst 1992 drei neue Mitarbeiter für die Stromtrassen bei ODHI angestellt. Der Däne Morten Bjarnesen, Matteo Vermeulen aus Belgien und der Franzose Piere Gauthier. Zwei Wasserbauprojekte kamen in gleichem Jahr noch hinzu. Das größte Projekt war 350 Kilometer lang und führte von Phnom Penh über Udong, Kompong Chhnang an Battambang vorbei bis nach Poipet an die Grenze zu Thailand. Gust und Arjen Wouters hatte die Bauleitung für dieses Projekt. Arjen kam wie Gust aus Belgien, auch sie kamen im Herbst 92 ins Team, genau so wie die beiden niederländische Brüder Fiete und Rouven Verhoeven. Beide sind erfahrene Hochbauingenieure. Fiete war die Verstärkung im Hauptbüro und Rouven war Teamleiter von zwei Bauabschnitten.
Das dritte Wasserbauprojekt war mit seinen 100 Kilometer Hauptwasserleitung wesentlich keiner und führte von Samraong nach Siem Reap. Die Bauleitung hatte Hannes und die Teamleiter waren Nolan, Cees, Martin Bödner aus Deutschland und Thore Lindqvist aus Schweden. Ferdinand, Luan und Rasmus Nyström, auch ein Schwede, waren für den Hochbau zuständig. Bödner, Lindqvist und Nyström kamen über die UNTAC im Dezember 92 zu ODHI.

Das Hauptbüro von ODHI Kambodscha blieb weiterhin in Kâmpóng Trâbêk. Aus einem kleinen Team von Bernhard, Eliane, Roman und ein paar Kambodschaner wuchs die Bürobelegschaft auf zwei Dutzend neue Mitarbeiter an. Auch wuchs der Maschinenpark auf 34 Caterpillar Bagger, 12 Caterpillar Radlader, 12 Mehrzweckbagger und acht Planierraupen.
Acht Poclain 90 CK Kranbagger, zehn Scania 113 Dreiachs- Kipper und vier Scania 143 Sattelzüge mit Tieflader gehörten ebenfalls zu dem Maschinenpark von ODHI.
Mit den eigenen Lkw konnte wesentlich mehr Material transportiert werden und die Transporte der schweren Bagger war durch die vier Tieflader erheblich schneller und auch endlich planbar.
Die Mitarbeiterzahl von Organisation de développement et de secours pour l’humanité et les infrastructures wuchs in Kambodscha mit oder durch UNTAC auf 50 Europäer und fast 600 kambodschanische Mitarbeiter an.

Der erste Bauabschnitt von dem damaligen Projekt war fertig. Arthur und Asger hatten mit ihren zwei Abschnitte noch bis Anfang 95 ihre Arbeit. Niemand traute Hannes im Frühjahr 1990 diese Zeitvorgabe zu. Asger blieb in der Provinz Svay Rieng und hatte dort zwei neue Teamleiter dabei. Da Hannes dieses Projekt seit drei Jahren leitete, war er auch öfter in Svay Rieng bei Asger.

Da Patricia und Hannes ihr Haus in Nakhon Ratschasima hatten, wollte Hannes das dritte Wasserbauprojekt im Nordosten leiten. So war gegeben, dass sie am Wochenende die 200 Kilometer nach Hause fahren konnten.
Patricia leitete seit diesem Jahr eine Schule in Chong Kal – noch in einem Zelt, aber Dhani war schon am Bau einer Schule beschäftigt.

Das Team von Patricia wuchs in Kampang Rou auf drei weitere Lehrer an. Levi und Patricia arbeiteten zeitweise schon für das Bildungsministerium und würde im nächsten Jahr zur Hälfte für das Ministerium in Phnom Penh und UNICEF arbeiten.
Mit den Erfahrungen von Kampang Rou und Khsaetr, wurden nach gleichem Schema neue Schulen in anderen Provinzen aufgebaut. Das ursprüngliche Lehrerteam von Patricia war maßgeblich an einer komplett neuen Schulreform in Kambodscha beteiligt. Mit diesen fünf Menschen, war ein Grundstock geschaffen worden, welcher für die Nachfolgenden Lehrer nur von Vorteil waren.
Da Hannes, Patricia und Levi quasi die Basis an der Front waren, hatten sie gute Argumente in der Hand, wodurch auch UNICEF profitierte. Die Schulgebäude konnte durch die Gleichheit von Dhani´s Bauweise korrekt geplant und finanziert werden. Hattie erwies sich als starke und treibende Kraft im Team, wodurch seit Anfang des Jahres noch fünf europäische Lehrer hinzu kamen. So konnten in den Provinzen Svay Rieng, Prey Veng und Oddar Meanchey wenigstens noch ein paar Schulen aufgebaut werden. Diesen Provinzen standen Gouverneure vor, die im denken und handeln gleich waren wie Major Bourey Duong, über ihn kamen auch die Kontakte. Der Gouverneur von Oddar Meanchey war Rangsey Choem, ein weltoffener, kluger und sehr sympathischer Mann. Sakngea Khin, der Gouverneur in der Provinz Prey Veng, kannte Hannes schon seit 1992. Auch er zählte zu den Menschen, denen Hannes und Bourey vertrauten.

Hannes als School Project Manager und Hattie als Managerin of Education and Health bei UNICEF, Patricia und Levi im kambodschanischen Bildungsministerium, Rangsey und Sakngea als gewählte Gouverneure und Bourey im Hintergrund der Politik, war eine bauliche, politische und schulische Basis aufgebaut von dem Kambodscha profitierte. Sieben Leute bewegten mehr als 21.000 Mitarbeiter bei UNTAC.

Bei ODHI in Reims

Am frühen Mittwochnachmittag waren Bernhard und Hannes in Reims eingetroffen. Stephane war froh, Hannes wieder zu sehen. Das letzte Mal war Stephane im Oktober und Dezember 92 mit den neuen Mitarbeiter in Kambodscha gewesen.
Nachdem im Büro alles relevante zügig besprochen wurde, schob Stephane ein Schreiben über den Tisch zu Hannes.
„Ministère de l’Affaires étrangères. Was soll dies nun?“ Fragte Hannes und legte den Kopf zur Seite.
„Du, ich, wir, sollen in die Quai d’Orsay kommen. Monsieur Alain Juppé möchte dich sehen.“ „Schick ihm ein Foto.“ Stephane sah Hannes in die Augen „Hannes! Das Außenministerium gab dir viel Geld für deine Schulen, dann solltest du dich auch dort blicken lassen.“ „Eben war es noch Wir – nun ich. Du weißt, dass ich diese Publicity nicht mag. Du warst es, der die Gelder besorgt hatte. Ich habe nur gebaut. Fahr du nach Paris und genieße die Canapés und den Champagner. Lass mich aus dem Spiel.“ „Bernhard, sag du auch etwas.“ „Ah, wenn der Feigling-Chef nicht mehr weiter weiß, holt er sich Unterstützung. Willst du auch noch Jean um Unterstützung bitten? Komm, ist gut. Bevor du noch auf die Knie gehst, fahre ich mit euch nach Paris. Wann ist dieses Treffen?“
Ein breites grinsen war im Gesicht von Stephane zu sehen „Am 9. Juni ist das erste Treffen im Außenministerium, zwei Tage später im Élysée-Palast.“ „Élysée-Palast? Stephane, auch wenn ich kein Franzose bin, ist mir die Adresse vom Außenministerium und jene vom Regierungssitz bekannt. Darf ich fragen, seit wann du diesen Termin weißt?“ „Seit dem 24. Mai.“ „Aha! Und das sagst du mir erst heute?“ „Ja, hätte ich es dir früher gesagt, wärst du nicht nach Reims gekommen. Richtig?“ „Oui! Du kennst mich schon recht gut. Brauch ich für deinen Élysée-Palast noch eine besondere Garderobe?“
Stephane sah zu Bernhard und verzog das Gesicht „Nina geht mit dir einen Smoking kaufen.“
Hannes riss die Augen auf „Ist jetzt nicht dein ernst?!“

Nina, die Personalchefin von ODHI, fuhr mit ihrem Wagen in die 16 Rue Cadran St Pierre in Reims zu einem Herrenausstatter.
Die Tür von dem Geschäft war noch nicht richtig geschlossen, da kamen auch schon zwei Verkäufer auf sie beide zu gestürmt. Sie wurden offensichtlich erwartet und in einem eifer aus Überschwänglichkeit wurden beide begrüßt wie ein Königspaar. „Gott, was hab ich nur verbrochen! Dieser Feigling-Chef“ sagte Hannes und sah zu Nina, sie zog die Schultern hoch. „Nina, für die Preise was eine Jacke kostet, bekomme ich einen Kleinwagen!“ „Smoking. Hannes, Smoking. Keine Jacke.“ „Bitte sag du mir endlich die Wahrheit, was mich in zwei Wochen in Paris erwartet.“ „Ihr bekommt den Ordre national du Mérite verliehen.“ „DEN WAS…?!“ „Den Nationalen Verdienstorden von Frankreich.“
Hannes hatte das Gefühl als ob ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.
„Excusez moi s’il vous plait, würden die Herren uns bitte für einen Augenblick entschuldigen.“
Hannes mochte es gar nicht, wenn diese zwei Pinguine ihn befummelten. Er ging mit Nina in Richtung der Schaufenster um eine größere Distanz zu den beiden Verkäufer zu bekommen.
„Nina, was soll das? Zum einen hat Patricia bei weitem mehr getan als ich. Sie ist es, die den Kinder lesen und schreiben lernt. Sie ist die Hauptfigur in diesem Spiel! Ich habe nur Gebäude gebaut und am wenigsten damit zu tun – bitte akzeptiert dies! Es ist falsch mir eine Auszeichnung zu geben und ihr nicht.“ „Ich sagte ihr! Ihr bekommt den französischen Verdienstorden verliehen!“ „Patricia ist in Kambodscha!“ „Nein. Sie sitzt jetzt im Flugzeug und ist auf dem Weg nach Paris.“ „Nina…! Ich kann dies alle nicht glauben! Wusste sie etwas von dieser Verleihung?“ „Nein. Stephane hat dir die Wahrheit gesagt. Das Schreiben vom Außenministerium kam tatsächlich erst am 24. Mai, da warst du aber schon in Deutschland. Hannes, bitte. Es ist die Wahrheit! Du und Patricia bekommt für eure Arbeit eine Auszeichnung, für die andere auf die Knie fallen und ich führe hier mit dir eine Diskussion darüber. Mag sein, dass Stephane ein Feigling-Chef ist –  aber er beschützt dich, er achtet auf dich und bringt dich voran! Er kann es nur nicht so ausdrücken. Wir alle sind unglaublich stolz auf euch und wir als Organisation werden auch Ausgezeichnet! Du steht bei uns auf der Gehaltsliste, Patricia nicht. Trotzdem hat Stephane es ermöglicht, dass Patricia auch diese Auszeichnung bekommt. Dir ist immer noch nicht bewusst, wie Jean und Stephane hinter dir und Patricia stehen!“ „Nina, dies ist alles eine Nummer zu groß für mich! Ich muss zusehen, dass ich nach Paris komme und Patricia morgen abhole.“ „Ist alles gut! Hannes, ich habe mich um alles gekümmert. Du fährst mit dem TGV heute Abend noch nach Paris. Ihr habt ein Zimmer im Hôtel Eiffel Trocadéro. Patricia wird morgen von einem Fahrer am Charles de Gaulle abgeholt. Jetzt komm endlich, dass die Schneider dir deinen Anzug Maß nehmen können! In drei Stunden fährt der TGV.“

Als Häftling geboren

Am 18. September 2015 sprach Ingelore Rohde in der Gedenkstätte Hinzert über ihr Schicksal. Ingelore ist das Kind aus einer Verbindung eines deutschen Mädchens mit einem polinischen Zwangsarbeiter und wurde im KZ Ravensbrück geboren.

Auszüge aus der Rede von Ingelore Rohde

,,Der 57. Jahrestag der Befreiung im Jahr 2002 stand unter dem Thema Kinder im KZ Ravensbrück‘. Dort habe ich mich erstmals öffentlich getraut, zusammen im Kreis mit anderen, Kindern über mein Schicksal zu sprechen. Immer hatte ich große Scheu davor, im Mittelpunkt zu stehen. Bis dahin hatte meine, Überlebensstrategie unbewußt darin bestanden, klein und fast unsichtbar zu sein, nur nicht aufzufallen. Jetzt waren viele Augen auf mich gerichtet und das Sprechen ist mir sehr schwer gefallen, aber ich habe es geschafft. Das war sicher auch ein wichtiger Schritt für mich hinsichtlich der Aufarbeitung meiner Vergangenheit. Ich bin im April 1944 im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück geboren. Meine Mutter wurde am 1. 12. 1943 – im 5. Monat mit mir schwanger – nach Ravensbrück deportiert. Sie war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Ich bin also sowohl Tochter eines Häftlings, als auch selber Häftling gewesen. Ich bin quasi als Ravensbrück-Häftling zur Welt gekommen. Ende April 1945 mußte meine Mutter mit mir, dem einjährigen Kind und tausenden anderen Frauen auf den sogenannten ,Todesmarsch‘. In Malchow/Mecklenburg wurden wir am 2. Mai 1945 von den Russen befreit. Bevor ich meine eigene Lebensgeschichte weiter erzähle, möchte ich Ihnen noch ein paar Informationen über Ravensbrück geben, die Vielleicht nicht allen hier Anwesenden bekannt sind. Die heutige Mahn-und Gedenkstätte liegt ca. 90 km nördlich von Berlin, in unmittelbarer Nähe des kleinen Städtchens Fürstenberg am Schwedt-See. Das Lager ist 1938/39 von männlichen Häftlingen des KZ Sachsenhausen Errichtet worden. Insgesamt waren bis zur Befreiung des Lagers Ende April 1945 ca. 130 000 Frauen, sowie fast 900 Kinder dort inhaftiert. Bei der Aufnahme bekamen sie außer gestreifter Häftlingskleidung einen sogenannten, Winkel‘. Das war ein Stoffdreieck, dessen Farbe erkennen ließ, welcher Gruppe von Häftlingen sie zugeordnet wurden. Die politischen Häftlinge bekamen einen ,roten‘ Winkel, die Kriminellen einen, grünen‘, die sogenannten Asozialen einen ,schwarzen‘ und die Bibelforscherinnen mussten einen violetten Winkel an ihrem linken Ärmel tragen. Die Jüdinnen erhielten den jeweiligen Winkel und darüber noch einen zweiten gelben, so dass die Form eines Davidsterns entstand. Außer dem Winkel bekamen sie noch eine Häftlingsnummer, mit der sie sich fortan zu melden hatten. Ihre bürgerlichen Namen existierten nur noch auf den Registrierkarten. Als Haftgrund für meine Mutter steht auf der Zugangsliste, Verkehr mit Polen‘. Allen Frauen, die sich mit sogenannten „Fremdvölkischen‘ eingelassen hatten, wurden bei der Aufnahme ins Lager, als besondere Demütigung, die Köpfe kahl geschoren. Meine Mutter bekam den roten – den politischen Winkel und die Häftlingsnummer 25 214. Von den, echten‘ politischen Häftlingen, die aktiv gegen das Naziregime gekämpft und Widerstand geleistet hatten, wurden diese Frauen etwas abfällig, Bettpolitische‘ genannt.“

Weiter sprach Ingelore ,,Es ist bekannt, dass rund 900 Kinder von 1939 bis 1945 im Lager zur Welt gekommen sind, aber nur rd. 2-3% überlebten. Insbesondere waren es solche, die in den letzten Wochen des Bestehens des Lagers zur Welt kamen und das Glück hatten, bald befreit zu werden. Ich bin eines der wenigen Kinder, das wie durch ein Wunder 1 Jahr in Ravensbrück überlebt hat. Die meisten Kinder hatten einfach keine Überlebenschancen. Viele wurden unmittelbar nach der Geburt von Aufseherinnen getötet, sie wurden ertränkt, sie verhungerten, weil die Mütter sie nicht versorgen konnten oder sie erfroren… Ich kann nur ahnen, wieviel Kraft es kostete, ein Kind, noch dazu einen Säugling, unter diesen erbärmlichen Umständen am Leben zu erhalten. Aber ich denke, ohne diese Solidarität in den jeweiligen Blocks hätte kein Kind überleben können. Einmal nahm mich eine Ravensbrückerin tröstend in den Arm und sagte zu mir: „Hier in Ravensbrück hast du viele Mütter gehabt. Deine junge Mutter allein hätte dich ohne Solidarität und Kameradschaft der anderen nicht am Leben erhalten können. Du bist bestimmt von Arm zu Arm gegeben worden und alle wollten dich beschützen. Ein Gedanke, der immer wieder ein warmes und dankbares Gefühl in mir auslöst, allen unbekannten Frauen gegenüber, die mein Überleben mit ermöglicht haben. Umgekehrt waren Kinder für die Frauen aber auch der Inbegriff von Hoffnung, sie weckten Mitleid und Erinnerungen an die eigene Familie und ließen zumindest zeitweise die eigene Hoffnungslosigkeit vergessen.“

Fotos: privat

Der Wahn im Nationalsozialismus

Stolpersteine Über 50.000 sind es mittlerweile – und es kommen immer wieder neue hinzu.

Der zweite Weltkrieg und somit der Wahn des faschistischen und nationalistischen Deutschland sind nun 79 Jahre her. Die Erinnerungen an den Rassen- und Größenwahn mit einer völkischen Einheit hatte Deutschland und Europa in ein Chaos gestützt.

Autorin: Naike Juchem

Viele Zeitzeugen gibt es immer noch und sie alle warnen vor einem erneuten aufblühen von nationalistischen, rechtspopulistischen und rechtsextreme Gedanken und gar Parteien.
Wir erleben seit Jahren einen Anstieg von rechtspobulistischen Parteien in ganz Europa und auch in Deutschland. Die Wahlergebnisse der AfD in Deutschland sind erschreckend und offensichtlich ist vielen derer Wähler ihr Gedankengut und öffentliches Parteiprogramm nicht bekannt.

Wehret den Anfängen, denn es darf niemals wieder zu einer der dunkelsten Epochen auf dem europäischen Kontinent kommen.

Lesung im Schloss Birkenfeld anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Ich war heute, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, auf einer Lesung bei der es um den polnischen Zwangsarbeiter Mieczyslaw Tatarek und der Hunsrücker Bauerntochter Frieda ging.
Im Anschluss der Lesung hatte ich eine Unterhaltung mit Gisela Henopp, geb. Gregorius, Tochter von Frieda Gregorius.

Die Geschichte von Frieda Gregorius und Mieczyslaw Tatarek ist genau so erschütternd, wie die Geschichte und Leben von Gisela Henopp, geb. Gregorius.
Ich schreibe diese Lesung nur in Auszügen, denn alles zu schreiben, wären es dutzende Seiten, und zum anderen möchte ich einen kleinen Einblick in die Persversität eines kranken Weltbild von dem Nazi-Deutschland geben.

Gisela Henopp, geb. Gregorius bei der Lesung über ihre Geschichte im Schloss Birkenfeld

Am 24. Oktober 1942, einen Tag vor der Geburt von Gisela Gregorius, spricht der deutsche Literaturnobelpreisträger Thomas Mann in einer seiner von der BBC nach Deutschland gesendeten 55 Radioansprachen zu seinen Landsleuten:
,,Deutsche Hörer, die Entdeckung Europas durch die Nazis ist nicht nur eine mißgeschaffene, sondern vor allem eine recht verspätete Entdeckung. Diese mörderischen Provinzler fangen an von Europa zu salbadern, in dem Augenblick, wo diese Idee selbst schon einen deutlich provinziellen Geruch anzunehmen begonnen hat. Ich glaube, der, den der Jugendführer Schirach ‚den kranken alten Mann im Weißen Hause‘ nennt, Roosevelt, weiß besser als er in Zeit und Welt Bescheid, wenn er sagt: ‚Der alte Ausdruck westliche Zivilisation paßt nicht mehr. Die Weltereignisse und die gemeinsamen Notwendigkeiten der Menschheit sind im Begriff, die Kulturen Asiens, Europas und der beiden Amerika zu vereinigen, und, zum ersten Mal, eine Welt-Zivilisation zu formen.“

Am Sonntag, dem 25. Oktober 1942, meldet das Oberkommando der
Wehrmacht: ,,Im Kampf um Stalingrad wurden in hartnäckigen Einzelkämpfen bis auf eine Halle alle restlichen Fabrikanlagen des Werkes ,,Roter Oktober“, ausgebaute Stellungen und Häuserblocks sowie der nördliche Vorort Spartakowka bis auf einzelne Häuser genommen.
Das am Vortag gewonnene Stadt- und Werksgelände ist von den Resten des Feindes gesäubert. Entlastungsangriffe brachen zusammen. Die schweren Luftangriffe auf die feindlichen Stützpunkte in Stalingrad und die sowjetischen Nachschubverbindungen ostwärts der Wolga gingen mit unverminderter Kraft weiter.
In Ägypten trat der Feind in breiter Front nach heftiger Artillerievorbereitung mit starken Infanterie-und Panzerverbänden unter Einsatz zahlreicher Luftstreitkräfte zu dem erwarteten Großangriff an. Zur Zeit sind erbitterte Kämpfe im Gange. Der Feind verlor bisher 20 Flugzeuge und zahlreiche Panzer.
Wie durch Sondermeldung bekanntgegeben, wurden von deutschen Unterseebooten, obwohl auch weiterhin schwere Herbststürme die Operationen beeinträchtigten, in harten Kämpfen aus stark gesicherten Geleitzügen und in zäher Einzeljagd im Nordatlantik, im Eismeer, vor der kanadischen Küste, bei Trinidad, vor der Kongo-Mündung und vor Kapstadt 16 Schiffe mit 104 000 Bruttoregistertonnen sowie ein Zerstörer versenkt.“

Das BDM-Mädchen Erika schreibt ihrem Onkel nach Rußland: ,,Habt ihr das Russenpack bald alle vernichtet?“

An diesem Sonntag schreibt der 20jährige Wolfgang Borchert, nach Untersuchungshaft wegen vermuteter Selbstverstümmelung wieder beim
Heer, an seine Eltern in Hamburg: ,,Saalfeld, den 25. Oktober 42
Ihr beiden Guten!
Heute ist hier ein wunderbarer Sonntag, die Stimmung des herrlichen Wetters hat mir auch etwas abgegeben und ich kann ganz unbeschwert atmen.
Ich werde mich nun nicht mehr von den Übergängen beirren lassen. Das äußere Leben hat für mich seinen Schrecken verloren und wird mich nicht mehr treffen – innerliche Prüfungen aber werden immer nur eine Bereicherung für die Seele sein. Was ist denn groß angesichtes der Sterne, daß es uns aus der Bahn werfen könnte! ..Und wenn die Sterne ihre Bahn verlassen, wer sagt uns denn, daß es nicht geschieht, um sich in eine noch größere Ordnung zu fügen!“

Wenig später wird der junge Dichter Borchert nach einer Goebbels-Parodie – ,,Lügen haben kurze Beine“ – von einem Stubenkameraden denunziert, erlebt dann in Rußland die Schrecken des Krieges und schreibt kurz nach Kriegsende die berühmte Kurzgeschichte ,,An diesem Dienstag“.
,,Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Der Krieg hat viele Dienstage.“

An diesem Dienstag übten sie in der Schule die großen Buchstaben. Die Lehrerin hatte eine Brille mit dicken Gläsern. Die hatten keinen Rand. Sie waren so dick, daß die Augen ganz leise aussahen.
Zweiundvierzig Mädchen saßen vor der schwarzen Tafel und schrieben mit großen Buchstaben:
‚Der alte Fritz hatte einen Trinkbecher aus Blech‘.
‚Die dicke Berta schoß bis Paris.‘
‚Im Krieg sind alle Väter Soldat.‘

Ulla kam mit der Zungenspitze bis an die Nase. Da stieß die Lehrerin sie
an. „Du hast Krieg mit ch geschrieben, Ulla. Krieg wird mit g geschrieben. G wie Grube. Wie oft habe ich das schon gesagt?“ Die Lehrerin nahm ein Buch und machte einen Haken hinter Ullas Namen. „Zu morgen schreibst du den Satz zehnmal ab, schön sauber, verstehst du?“ „Ja“, sagte Ulla, und dachte: Die mit ihrer Brille.

An diesem Dienstag saß Ulla abends und malte in ihr Schreibheft mit großen Buchstaben:
Im Krieg sind alle Väter Soldat.‘
Im Krieg sind alle Väter Soldat.‘
Zehnmal schrieb sie das. Mit großen Buchstaben. Und Krieg mit G. Wie Grube.

In den ,,Meldungen aus dem Reich“ berichtet an diesem Sonntag der Sicherheitsdienst der SS, der überall im Land seine Lauscher und Horcher hat, an die Zentrale in Berlin:
„Die von Reichsminister Dr. Goebbels in Gotenhafen gehaltene Rede hat im Nordosten des Reiches große Beachtung und positive Aufnahme gefunden. Der von Dr. Goebbels in der Rede gebrachte Vergleich zwischen der ‚Halbzeit im Fußballspiel‘ und der jetzigen Kriegslage hat vielfach zu der falschen Auffassung geführt, daß der Krieg nochmals drei Jahre dauern werde. Mißverstanden wurde auch der Hinweis, daß dieser Krieg um ‚Eisen, Öl und Weizen gehe.‘
Von Angehörigen Gefallener wird hierzu entgegengehalten, daß ihre Soldaten für Deutschlands Freiheit und die Abwehr des Bolschewismus, nicht aber für materielle Dinge gefallen seien.“

An diesem Sonntag, dem 25. Oktober 1942, wird im Hunsrückdorf Budenbach Gisela Gregorius geboren.
Die Geschichte ihrer Eltern ist schnell erzählt: Giselas Mutter, Frieda Gregorius, Bauerntochter und einziges Kind ihrer Eltern, wird am 10. Januar 1944 von der Gestapo von zu Hause abgeholt und dann ,,dem Amtsgericht Kirchberg vorgeführt“, so die Notiz auf ihrer ,,Ordnungskarte“.
Ihr Töchterchen Gisela sieht sie nie wieder: Am 11. Mai wird sie als ,,politischer Häftling“ ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Dort stirbt sie, 31 Jahre alt, Anfang Dezember 1944.

Giselas Vater, der polnische Zwangsarbeiter Mieczyslaw Tatarek, ist bei der Geburt seine Tochter schon nicht mehr im Dorf. Bereits am 24. August 1942 wurde er festgenommen und in ein Koblenzer Gefängnis gesteckt:
,,wegen Geschlechtsverkehrs mit einem deutschen Mädchen“ – so steht es auf der Karteikarte der Geheimen Staatspolizei Koblenz. Bei ihm scheint zunächst geprüft worden zu sein, ob er „eindeutschungsfähig“ sei. Das war er wohl nicht, möglicherweise seiner geringen Körpergröße wegen.
Jedenfalls landet er nicht in dem für ,,Eindeutschungsfähige“
vorgesehenen KZ Hinzert, sondern am 3. März 1943 im KZ Natzweiler im Elsaß, das er möglicherweise überlebt hat:
Am 14. Mai 1946 stirbt im Städtischen Krankenhaus München-Schwabing ein 29 Jahre alter ,,polnischer Wachmann“ namens Michzyslaw Tatarek.
Als Todesursache nennt die Sterbeurkunde:
„Leberverletzung und Pneumothorax,… Intoxikation infolge Leberschädigung, akute Herz-und Kreislaufschwäche.“
Vermerk: „Der Todesfall wurde beim Amtsgericht München registriert, Angehörige waren nicht ersichtlich.“
Möglich ist – und dafür sprechen die dramatischen Todesumstände – daß sich in den Wirren des Kriegsendes ein Aufseher im KZ Natzweiler der Papiere des dort schon Verstorbenen bemächtigt hat, um ungeschoren davonzukommen.

Ein Text aus: Sarah Helm, ,,Ohne Haar und ohne Namen – Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück“;
englischsprachige Originalausgabe 2015; deutschsprachige Ausgabe durch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2016, S 385f: ,,Die Kluft zwischen Theorie und Realität war 1944 nicht nur innerhalb des Lagers, sondern überall in Himmlers Imperium deutlich zu erkennen. Der Reichsführer hatte angeordnet, die Todesraten zu reduzieren und gute Arbeitskräfte am Leben zu lassen. Stattdessen aber stieg die Zahl der Toten an und ein neues Krematorium wurde errichtet, um der Situation Herr zu werden.
Himmlers Ernährungstheorien änderten sich laufend. Er hatte gerade erst neue Richtlinien für die Lagerkost herausgegeben, um damit die Arbeitsleistung zu verbessern. Bis zu 50 Prozent des Gemüses in der Häftlingssuppe sollte roh sein und erst kurz vor dem Austeilen beigefügt werden. Die Mittagsmahlzeit sollte aus eineinviertel bis anderthalb Litern Suppe bestehen – nicht klar, sondern püriert. Des Weiteren hatte Himmler darauf bestanden, dass die Gefangenen Zeit und , Ruhe zur Nahrungsaufnahme bekamen, sodass die Verdauung ordentlich erfolgen konnte. Wie jedoch klar war, wirkten die rohen Wurzelgemüse auf die ausgemergelten Körper der Lagerinsassen verheerend und verursachten Krätze und Geschwüre. Was die Ruhe zur Nahrungsaufnahme anging, so waren die Blocks mittlerweile derart überfüllt, dass es keinen Platz gab, um sich überhaupt zu setzen. Die Häftlinge, die für Siemens arbeiteten, marschierten zur Mittagssuppe vom Fabrikgelände zurück ins Lager und hatten so fast überhaupt keine Zeit, um zu essen.“

Die Lagerordnung

Vorderseite:
,,Frau Kath. Gregorius ,22 Budenbach Post Oberwesel (Land)

Rückseite:
,,Meine genaue Anschrift: Schutzhäftling Gregorius Frieda Nr. 38469 Block 6

In allen Briefköpfen der folgende Auszug aus der Lagerordnung: „Jeder Häftling darf im Monat (handschriftlich eingefügt: 1 ) Briefe oder Postkarten empfangen und absenden. Eingehende Briefe dürfen nicht mehr als (handschriftlich eingefügt: 2 ) Seiten à 15 Zeilen enthalten und müssen übersichtlich und gut lesbar sein. Geldsendungen sind nur durch Postanweisung zulässig, deren Abschnitt nur Vor-, Zuname, Geburtstag, Häftlingsnummer trägt, jedoch keinerlei Mitteilungen. Geld. Fotos und Bildereinlagen in Briefen sind verboten. Die Annahme von Postsendungen, die den gestellten Anforderungen nicht entsprechen, wird verweigert. Unübersichtliche, schlecht lesbare Briefe werden vernichtet. Im Lager kann alles gekauft werden. Nationalsozialistische Zeitungen sind zugelassen, müssen aber vom Häftling selbst im Konzentrationslager bestellt werden. Lebensmittelpakete dürfen zu jeder Zeit und in jeder Menge empfangen werden.
Der Lagerkommandant“

Einer der Briefe von Frieda Gregorius aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück

Der erste Brief von Frieda Gregorius an ihre Mutte, bzw. Kind
,,Ravensbrück, 9. 7. 1944
Ihr Lieben! Bin seit einiger Zeit hier. Es geht mir gut hoffe dasselbe auch von Euch. Was macht denn Gisela noch? Liebe Mutter gib mir immer gut [….? ] (Einige Passagen aus dem original Brief sind nicht mehr lesbar)
Und ziehe es gut an. Brief und Paket habe ich erhalten auch meinen herzlichsten Dank dafür. Pakete mit Brot, Kuchen, Marmelade und sonstige Lebensmittel sind jederzeit zugelassen. Speck und Zucker auch Schmalz nebst Haferflocken darf ich empfangen. Geld habe ich auch erhalten vorläufig mal genug.
Habt ihr auch Kirschen eingeweckt? Dann denke auch an mich. Wie weit seid Ihr mit der Ernte? Und was du nicht schaffen kannst, bleibe? Später werde ich dir wieder helfen. Wie geht es denn Fam. ? noch? s gibt es denn sonst noch neues bei Euch?
Davon.
Und was gibt
Viele herzliche Grüße auch Gisela.
Frieda

Zweiter Brief von Frieda Gregorius aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Sept. 1944

Liebe Mutter und Gisela! Deine drei Pakete u. Brief habe ich dankend u. mit großer Freude u. mit gutem Inhalt erhalten. Wie geht es Euch noch? Was macht denn Gisela ist das Kind auch immer brav? Möchte es doch sehen habe großes Verlangen danach. Mir geht es nochgut. Wenn du jede Woche mit einem Lebensmittelpaket an mich denken würdest, ich wäre sehr dankbar. Hast du nicht vielleicht außerdem noch einige Zwiebel Knoblauch, mal so gerne feines Salz und wenn es geht, u. hast es, etwas Bienenhonig, Formkuchen u. Streuselkuchen u. weißen dicken Kuchen schmeckten auch so gut. Schicke mir 1 paar Strümpfe mit u. Kopftuch. Wie weit seit Ihr mit der Ernte?
Viele Grüße von Frieda

Aus dem Buch von Christa Wagner, ,,Geboren am See der Tränen“, 1987 in der ehemaligen DDR erschienen:
,,Als man den Häftlingen gestattete, sich Lebensmittel schicken zu lassen, dachten die Ravensbrückerinnen, es sei dem Internationalen Roten Kreuz und dessen wachsenden Aktivitäten zu verdanken. Sie hatten sich geirrt. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich nämlich von Tag zu Tag rapid, folglich sank die Arbeitsproduktivität und mit ihr die Profitrate. Das NS-Regime entlastete sich selbst durch dieses scheinbare Entgegenkommen, belastete die Angehörigen der Inhaftierten mit Verpflegungssorgen und gab sich obendrein den Anstrich, großmütig, human, großzügig zu sein.
Übrigens bedienten sich die SS-Mannschaften als erste. Sobald Pakete eintrafen, raubten sie alle hochwertigen Nahrungs-und Genußmittel.“

Aus den beiden folgenden Briefen von Frieda ist jeweils links ein Stück herausgerissen. Somit ist nicht alles lesbar.

Ravensb. Okt. 1944
„Ihr Lieben alle! Brief und 3 Pakete habe ich dankend erhalten… Nach Äpfel habe ich furchtbaren Appetit, aber bitte allein schicken. Und was gibt es sonst noch neues bei Euch? Bitte schreibt mir immer. Habt Ihr die Ernte gut eingebracht? Hätte Euch gerne geholfen. Für Gisela laß ein Mäntelchen nähen für jeden Tag, das es ihm nicht so kalt wird… Frieda.“

Ravensbrück, Okt. 1944
„Ihr Lieben alle! Habe Euren lieben Brief erhalten herzlichen Dank. Wie ist es denn mit einem P….habt Ihr mich vergessen? Mir geht…es auch von Euch. …es Gisela denn dem armen…
Habt Ihr auch noch Hasen?
…Appetit darauf auch noch… Kuchen, Brot und sonstigen…sind auch erlaubt. Lege doch bitte dem nächsten Paket auch einen Staubkamm bei und einige Taschentücher ziemlich große von Dir. Liebe Mutter hast Du auch Obst gesorgt für den. Winter? Hauptsächlich Äpfel. Bitte vergeßt mich nicht und laß Dir nicht so viel einreden. Schreibe mir bald….was neues. Gruß Frieda“

Und nun Friedas letzter Brief, auch hier links ein Stück herausgerissen;
z. B. die Stelle:
manches nur schwer verständlich, z ,,hoffentlich auch bei Ihnen“:

Ravensbrück, Dezember 1944
Ihr Lieben! Habe Euern Brief erhalten, auch herzlichen Dank, aber wo blieb das Paket? Wann ich nach Hause komme, das weiß ich nicht. Mir geht es gut, hoffentlich auch bei Ihnen. Wenn die mal wieder schicken, so denke bitte an mich. ….wird sicher schon groß sein….acht auf das Kind. Kannst..nn(?) von sonst niemand machen…? Was gibt es denn sonst neues? Ich darf ja nur einmal im Monat schreiben. Du kannst schon mal mehr schreiben. 1 Paar dicke Fausthandschuhe hätte ich gerne. Ich brauche doch nicht immer zu schreiben Du (weißt? mußt?)….( Gruß?) Frieda.

Kurz vor Weihnachten dann der Brief vom Lagerkommandanten Fritz Suhren.
Ravensbrück, den 18. Dezember 1944.
„Sehr geehrte Frau Gregorius! Ihre Tochter, Frieda Gregorius geb. 23. 5. 1913 in Budenbach, Krs. Simmern, meldete sich am 4. 12. 1944 krank und wurde daraufhin unter Aufnahme im hiesigen Krankenhaus in ärztliche Behandlung genommen. Es wurde ihr die bestmöglichste medikamentöse und pflegerische Behandlung zuteil, Trotz aller angewandten ärztlichen Bemühungen gelang es nicht der Krankheit Herr zu werden. Ich spreche Ihnen zu diesem Verlust mein Beileid aus. Ihre Tochter hat keinen letzten Wunsch geäußert. Ich habe die Gefangeneneigentumsverwaltung meines, Lagers angewiesen, den Nachlass an den erbberechtigten Empfänger zu senden.

Suhren
SS-Sturmbannführer

Naike Juchem, 27. Januar 2024

Mit freundlicher Genehmigung der Theatergruppe Birkenfeld und Gisela Henopp, geb. Gregorius.